Drittmittelprojekte
Beteiligung an laufenden Verbundforschungsprojekten
Beteiligung an abgeschlossenen Verbundforschungsprojekten
Laufende Drittmittelprojekte
Abgeschlossene Drittmittelprojekte
Prof. Dr. Dietmar Neutatz, Ágnes Tóth: Die Selbstorganisation der Deutschen in Ungarn und die ungarische Nationalitätenpolitik 1955-1990" (gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags)
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags.
Laufzeit: 1.4.2016-31.3.2019
Zusammenfassung
Das Forschungsprojekt untersucht die ungarische Nationalitätenpolitik des Einparteienregimes in Ungarn 1949-1989/90 und in deren Rahmen die Selbstorganisation der Ungarndeutschen. Es geht vor allem der Frage nach, welche Direktiven seitens der Partei und der Staatsmacht die Selbstorganisation prägten und welche Freiräume in diesem Zeitraum entstehen und sich zu behaupten vermochten.
Ziele des Forschungsprojekts
Innenpolitische Aspekte
In der Zeitspanne zwischen 1950 und 1990 bestimmte die marxistisch-leninistische Ideologie die Nationalitätenpolitik von Partei und Regierung. Dementsprechend überschrieben zum einen die Klassengesichtspunkte die nationale bzw. ethnische Zugehörigkeit, zum anderen machte die unterschiedslose Gewährleistung der staatsbürgerlichen Rechte eine eigene Gewährleistung von Minderheitenrechten unnötig.
Bereits die bisherigen Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass innerhalb des Untersuchungszeitraums mehrere Perioden unterschieden werden können. Innerhalb dieser Zeitabschnitte veränderten sich die inhaltlichen Elemente und Schwerpunkte der Nationalitätenpolitik. Zugleich waren die gesamten vier Jahrzehnte durch eine Verringerung des Gewichts der Minderheitenfrage, durch Widersprüche zwischen der rechtlichen Regelung und der praktischen Umsetzung, durch die Verhinderung der Selbstorganisation der Minderheiten bzw. durch eine Steuerung „von oben“ und die vollständige Kontrolle der Aktivitäten der Minderheiten sowie durch die – im Hinblick auf die Ungarn in den Nachbarländern – gleichzeitige selektive Anwendung der Auffassung von „Kulturnation“ und „Staatsnation“ geprägt.
Das grundlegende Ziel der geplanten Forschung ist die monografische Aufarbeitung der Geschichte des Kulturverbands der Deutschen Werktätigen in Ungarn (1955-1960), sowie des Demokratischen Verbands der ungarländischen Deutschen Werktätigen (1960-1990) und ein Vergleich mit der Tätigkeit weiterer Nationalitätenverbände – der Rumänen, der Südslawen, der Slowaken – um Ähnlichkeiten und Unterschiede feststellen zu können. Im Hinblick auf solche Unterschiede sollen auch deren Gründe aufgedeckt und der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese durch die unterschiedlichen Strategien der Führungsgremien und deren politischen Stellung begründet werden können und inwieweit dabei die Nationalitätenpolitik von Partei und Regierung eine Rolle spielte.
Außenpolitische Aspekte
Zugleich ist auch beabsichtigt, die Situation der deutschen Minderheit in Ungarn in Beziehung zum deutsch-ungarischen Verhältnis (Ungarn-BRD-DDR) zu setzen. Beide deutsche Staaten haben nach ihrer Gründung – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – für die Lage der Ungarndeutschen Interesse gezeigt. Diesen Aspekt haben ungelöste Fragen noch dazu verstärkt: die Familienzusammenführung, die Schwierigkeiten der Besuche bei Verwandten oder die Rente der einst in der deutschen Wehrmacht gedienten Soldaten sowie die Entschädigungsansprüche.
Die unterschiedlichen Behörden beider Staaten – Ministerien, Kulturinstitute, Universitäten –strebten mit dem Demokratischen Verband der ungarländischen Deutschen Werktätigen direkten Kontakt an. An einer Zusammenarbeit waren auch die durch die in der BRD von den Vertriebenen gegründeten Landsmannschaften sowie zivile Organisationen interessiert. Obwohl ab Dezember 1973, nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Ungarn und der BRD der Deutsche Verband seine ausländischen Beziehungen schon freier gestalten konnte, war diese Freiheit in erster Linie mehr auf die DDR beschränkt. Denn eine starke Partei- und Staatskontrolle blieb bis zum Systemwechsel 1989 in Geltung.
Durchführung des Forschungsprojektes
Das Projekt hat seinen Sitz an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und wird in enger Kooperation mit dem Stiftungslehrstuhl für deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Mitteleuropa an der Universität Pécs durchgeführt. Die Projektbearbeiterin vor Ort ist Dr. Tóth Ágnes, Universitätsdozentin und Leiterin des Stiftungslehrstuhls.
Kristina Wittkamp, M.A.: Radio „Majak“ – Identitätsstiftung und soziale Differenzierung durch Radio in der sowjetischen nachstalinistischen Gesellschaft, 1964-1991 (gefördert von der DFG)
Zusammenfassung
Die Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre, also bis zur flächendeckenden Etablierung des Fernsehens in den europäischen Haushalten, gilt als der Zeitraum der größten Wirksamkeit des Radios. Als Massenphänomen betrachtet, nimmt das Radio bis heute eine bedeutende kulturelle Funktion wahr. Es ist zentrales, auch strukturierendes Element des Alltags, das über Nachrichten und ähnliche Informations- und Unterhaltungsdienstleistungen Aktualität in einer parasozialen Form vermittelt.
Der Radiosender Majak hatte in der Sowjetunion eine besondere Stellung. Im Gegensatz zu den übrigen drei unionsweit empfangbaren Radiosendern begann Majak nach einem ZK-Beschluss vom 1. August 1964 als ein in Konkurrenz zu den Westsendern Radio Liberty, Voice of America und BBC konzipierter Sender. Dieser Sender sollte die in der Bevölkerung vorhandene Nachfrage nach Musik und auch Informationen, die über die standardisierten Pravda-Meldungen hinausgingen, decken.1 Als Musik- und Informationsprogramm (Muzykal'no-informacionnaja programma), das sich durch halbstündliche kurze Nachrichtenblöcke von 5 Minuten Länge und 25-minütigen Musikblöcken gestaltete und strukturierte, bot Majak für einen sowjetischen Sender ungekannte Aktualität. Gleichzeitig stiftete der Sender durch seine Erkennungsmelodie Podmoskovnye večera Identifikation und hatte einen enormen Wiedererkennungswert. Nicht nur die guten unionsweiten Empfangsmöglichkeiten des Senders, sondern auch sein als charismatisch empfundenes Redaktionsteam boten weitere Identifikationsmöglichkeiten, was sich auch in zahlreichen Leser- und Hörerzuschriften.2
2. Zum Redaktionsteam gehörten vor allem der später auch in der Perestrojka aktive Mitbegründer A. N. Jakovlev und der erste Chefredakteur Ju. A. Letunov. Leserbriefe finden sich in den Programmzeitungen Programmy televidenija i radioveščanija und Govorit i pokazyvaet Moskva.
Ziele und Fragestellungen
Das hier vorgestellte Projekt arbeitet an einer Verbindung der Medien- und Gesellschaftsgeschichte. Medien werden nicht nur unter politik- oder technikgeschichtlichen Punkten betrachtet, sondern in den Rahmen einer Geschichte der Kommunikationsstrukturen einer Gesellschaft eingebettet. Radiohören und Radioaneignung als Tätigkeit bildet ein bisher noch kaum beachtetes Feld der gesellschaftlichen Kommunikation in der Sowjetunion. Zu den Zielen des Projekts gehört der Erkenntnisgewinn über das sowjetische Radio jenseits von Zensur und Kontrolle. Das schließt das Aufzeigen und Identifizieren von Handlungsspielräumen und Netzwerken der Radiomacher auf der einen und von Identifikationsmöglichkeiten für Teilöffentlichkeiten der Rezipienten auf der anderen Seite ein. Dahinter steht der Gedanke, dass Radio ein fester Bestandteil des Alltags und der Lebenswelten der Menschen war.1
Das Erkenntnisinteresse des Projekts konzentriert sich auf drei Leitfragen:
- Welche Funktionen hatte Majak im Brežnevschen System?
- Wie sah das Radiokonzept und seine Umsetzung aus?
- Wie erfolgreich war das Konzept?
Funktionen
Wenn Radiohören als Form der gesellschaftlichen Kommunikation, als Mittel der Herrschenden und als Faktor der Identitätsbildung durch Aneignung des Mediums verstanden wird, ist es für die spätere Sowjetunion auch nötig, einen Öffentlichkeitsbegriff jenseits von Totalitarismus und Revisionismus zu formulieren und explizit nach (bürgerlichen) Teilöffentlichkeiten zu fragen. Radio Majak war als sowjetisches Gegenangebot gegenüber den westlichen Sendern konzipiert. Im Rahmen der Konkurrenz zu ausländischen Sendern entwickelte Majak seine eigene, spezifische Sendestruktur. Ein differenziertes Programmangebot bot zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten für die Rezipienten. Vordergründig könnte dieses Angebot des Regimes als Zugeständnis an die Bedürfnisse der Bevölkerung und an die Herstellung einer spezifischen Loyalität verstanden werden. Auf der anderen Seite eröffnete Majak durch seine Sendungen aber auch neue Möglichkeiten einer sowjetischen Identitätsbildung, die vielleicht in dieser Form vom Regime nicht vorgesehen waren. Der Untersuchungszeitraum des Projekts erstreckt sich vor allem über die Brežnevzeit. Das Bild dieser Ära als Zeit der Stagnation wurde in sozioökonomischer Hinsicht bereits revidiert. Das Projekt möchte im Hinblick auf Freiräume und Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Radio und Regime die Brežnevzeit auch mediengeschichtlich neu vermessen. Für die Zeit der Perestrojka stellt sich ebenfalls die Frage nach der spezifischen Rolle von Majak.
Radiokonzept und Umsetzung
Im Rahmen dieser Leitfrage geht es um die Interaktion zwischen Publikum und Medienmachern sowie zwischen Medienmachern und Regime. Als Untersuchungsgegenstände bieten sich der Aufbau des Senders und das Programmangebot an. Durch deren Untersuchung lässt sich auch die innere Struktur der Gesellschaft erschließen: Wie wird im Radio über Gender oder Generationen gesprochen? Was ist Unterhaltung und was ist Information im Radio? Wie werden Botschaften vermittelt? Gibt es eine spezifische Sprache des und im Radio?
Im Rahmen der Identitätsbildung und der Bereitstellung eines Angebots finden sich bei Majak zahlreiche Sendeformate, die verschiedene Bedürfnisse abdeckten. Dazu gehören Musik- und Informationsprogramme. Verbunden damit ist die Vermittlung und (Be)Werbung dieser Programmangebote beispielsweise in Programmzeitschriften und -zeitungen.2 Neben einer Analyse ausgewählter Sendeformate sollen auch die Radiomacher untersucht werden. Gefragt wird nach ihren Handlungsspielräumen, nach (normativen) Vorgaben und Kontrollmechanismen seitens der übergeordneten Behörde Gosteleradio und nach deren Wahrnehmung durch die Radiomacher. Verbunden mit dem Fokus auf die Kommunikation und Interaktion ist die Analyse von Netzwerken. Fachliche Diskussionsforen der Radiomacher waren Zeitungen wie Televidenie i radioveščanie, Sovetskaja kul'tura und Literaturnaja gazeta. Eine Analyse dieses Materials würde das Spektrum um die Komponente eines Expertendiskurses erweitern. Weiteren Einblick in die persönlichen Handlungsspielräume der Radiomacher und ihrer Verhältnisse zu Gosteleradio geben Memoiren und Erinnerungen.
Erfolg und Wirkung
Mit der Frage nach Erfolg und Wirkungen ist eine Identifizierung und Charakterisierung der Rezipienten verbunden: Wer hörte wann und wie Radio? Welche Aussagen lassen sich über das Publikum machen? Inwiefern stellte der Radiosender Majak ein Element einer spezifischen Identitätsbildung dar? Hier bietet sich die Untersuchung von Hörerwünschen und Leserbriefen an. Darüber hinaus geben auch einerseits westliche soziologische Studien über die sowjetische Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre und andererseits innersowjetische soziologische Studien jener Zeit Aufschluss über die Mediennutzung.3
Die Historizität der Gefühle und deren kulturelle Praktiken kann man speziell in Medien gut untersuchen. Radio wird als Miterleben verstanden und vermittelt Gemeinschaft. Fühlen und Hören sind eng miteinander gekoppelt.4 Emotionen und Emotionalisierungen lassen sich durch die Untersuchung einzelner Sendeformate und im Rahmen von qualitativen Oral-History-Interviews identifizieren. Zu untersuchen wäre auch, inwiefern Emotionen mit Live-Sendungen verbunden sind, welche Emotionen durch Rhetorik ausgelöst werden können und was die Spezifik des prjamoj ėfir, der Direktübertragung, ist. Die Erwartungen des Publikums, aber auch die alltägliche Bedeutung und Routine des Radiohörens lassen sich gut anhand von Hörerzuschriften untersuchen, die sich beim Radiosender selbst als auch bei Programmzeitungen finden lassen.
2. Vgl. dazu die Studie von Lu Seegers, die systematisch die Programmzeitschrift Hör zu! analysierte. Seegers, Lu: Kontinuierlicher Erfolg: Eduard Rhein und die Programmzeitschrift Hör zu, in: Backhaus, Fritz (Hrsg.): Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden. Begleitbuch zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt am Main vom 15. März bis 29. Juli 2012, Göttingen 2012, S. 72–78; Seegers, Lu: Hör zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931-1965), Potsdam 2001.
3. Propper Mickiewicz, Ellen: Media and the Russian Public, New York 1981. White, Stephen: Political Culture and Soviet Politics, London 1979; S. XI und zum Radio S. 137. Hansjürgen Koschwitz präsentiert in einem Sammelband eine Auswahl sowjetischer soziologischer Texte, die sich mit der Kommunikationsforschung beschäftigen: Koschwitz, Hansjürgen (Hrsg.): Massenkommunikation in der UdSSR. Sowjetische Beiträge zur empirischen Soziologie der Journalistik, Freiburg/München 1979.
4. Allgemein dazu siehe den Sammelband Bösch, Frank / Borutta, Manuel (Hrsg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2006; interessante Ansichten zu den Wechselwirkungen der Termini Emotionen und Masse bietet der Sammelband Klein, Ansgar / Nullmeier, Frank (Hrsg.): Masse - Macht - Emotionen. Zu einer politischen Soziologie der Emotionen, Opladen, Wiesbaden 1999.
Laura Ritter, M.A.: Generalmajor Aleksej Aleksandrovič von Lampe und die russische Emigrantenkolonie in Berlin, 1923-1945 (bis 31. Mai 2016 GRK 1288 Freunde, Gönner, Getreue; ab 1. Juni 2016 DFG-Projekt, abgeschlossen 2018)
Der russische Emigrant Alexej von Lampe stellt eine außergewöhnliche Figur innerhalb der Emigrantenkolonie in Berlin dar. Als Vertreter des Oberbefehlshabers der Weißen Truppen, General Vrangel‘, nahm der Generalmajor eine zentrale Position innerhalb des so genannten Russischen Berlins ein. Dabei hinterließ er mit seinem detaillierten Tagebuch, das er von 1919 bis 1965 schrieb, eine einzigartige Chronik des russischen Lebens in Berlin. Im Zentrum des Projekts steht daher die Biographie Aleksej von Lampes, wobei sein Tagebuch als Hauptquelle dient. Zeitlich konzentriert sich das Projekt auf die Jahre 1923 bis 1945, in denen von Lampe sich in Berlin aufhielt. Die Nachkriegszeit wird in einem Ausblick behandelt.
Von Lampe wurde zu einer zentralen Figur des Russischen Berlins, da er sich als überzeugter Monarchist im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki positioniert hatte und nach der Niederlage der Weißen 1920 aus Russland emigrierte. In Berlin wurde er 1924 mit der Vertretung der von General Vrangel‘ gegründeten Allrussischen Militärunion (Rossijskij Obšče-Voinskij Sojuz; ROVS) betraut, die die Weiße Armee in der Emigration organisieren sollte. Von Lampe blieb auch nach dem Niedergang des Russischen Berlins in der Stadt. Bemerkenswert ist seine Entscheidung für eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten gegen den gemeinsamen Feind, die Bolschewiki. Im Zweiten Weltkrieg versuchte er sogar eine Emigrantendivision zu organisieren, die gegen die Rote Armee kämpfen sollte. Nach dem Krieg zog von Lampe erst nach München und dann nach Paris, wo er 1967 verstarb.
Das Forschungsprojekt verfolgt vier Ziele, die in der Forschung bisher unbeachtet blieben: Erstens wird die autobiographische Praxis von Lampes anhand seines Tagebuchs untersucht. Dieser Komplex wird sich mit dem Tagebuch als Quelle, von Lampes Intentionen und dem Akt des Tagebuchschreibens beschäftigen. Zweitens werden über einen biographischen Zugriff von Lampes Erfahrungen während der Revolution, der Emigration und des Zweiten Weltkriegs analysiert. Besonderes Augenmerk gilt dabei seinen politischen Überzeugungen und seiner Selbstverortung in den sich zwischen 1920 und 1950 dramatisch verändernden Verhältnissen in Deutschland. Drittens wird ausgehend von seinen interpersonalen Beziehungen die russische Kolonie als Netzwerk untersucht, um Erkenntnisse über ihre inneren Strukturen zu gewinnen. Viertens wird von Lampes Einschätzung des Lebens innerhalb der Emigrantenkolonie und der Entwicklungen in Deutschland herausgearbeitet, um aus einer Innenperspektive heraus Schlüsse auf individuelle und kollektive Denkmuster und Werthaltungen sowie Handlungsspielräume der Emigranten zu ziehen.
Um dem Erkenntnisinteresse trotz der Materialdichte gerecht zu werden, fokussiert das Projekt einige ausgewählte Schlüsseljahre: 1923 befand sich das Russische Berlin auf seinem zahlenmäßigen Höhepunkt. 1928 endete von Lampes Finanzierung durch die ROVS, was seine Lebensumstände massiv veränderte. 1933 wurde er von der Gestapo verhaftet und seine Tochter starb. Von 1939-1945 positionierte von Lampe sich angesichts der wechselhaften deutschen Politik stets neu. 1957 wurde von Lampe Vorsitzender der ROVS in Paris.
Prof. Dietmar Neutatz, Dr. Reinhard Nachtigal: Nationalheld, Volksheld und Antiheld: Aleksandr Suvorov und Emel’jan Pugačev vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert (SFB 948 Helden – Heroisierungen – Heroismen, Teilprojekt B6 2012-2016)
SFB 948 Helden – Heroisierungen – Heroismen
Projektbereich B: Modelle
Im Projektbereich B geht es um Prozesse der Ausbildung, der Veränderung und der gesellschaftlich-konfliktreichen Aneignung oder Ablehnung von bestimmten, tendenziell längerfristig persistenten Modellen des Heroischen. Gegenüber dem Projektbereich A, der stärker die Artikulationsformen des Heroischen selbst als Bestandteile kultureller Sinnsysteme in den Mittelpunkt stellt, geht es hier zwar auch um die Medialität von Heroisierungen und Heroismen, dabei wird aber auf die soziale Phänomenologie von bestimmten Figuren, Figurenkonstellationen oder bestimmter Heldentypen abgezielt, aus denen sich kanonische Muster ableiten lassen, deren Transformationen und Konjunkturen wiederum herauszuarbeiten sind. Thematisiert werden also die besonderen Kennzeichen spezifischer Personalfigurationen mit einem modellhaften Charakter, d. h. mit einem bestimmbaren personalen Rollenmodell als Referenz, die zeit- und raumübergreifend wirkte. Auch hier ergibt sich gemäß den Zielen des Gesamtvorhabens durch die Zusammenstellung der Teilprojekte insgesamt eine longue durée von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, doch stehen eher exemplarische Rollenmuster in einem jeweils begrenzteren diachronen Überblick im Zentrum der einzelnen Untersuchungen, die dann im Vergleich Spezifika oder Verwandtschaften klarer heraustreten lassen.
Teilprojekt B6
Das Teilprojekt untersucht am Beispiel zweier heroischer Personalfigurationen die Konjunkturen von unterschiedlichen Modellen des Heroischen in Russland vom ausgehenden 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert und fragt danach, was sich daraus für das Selbstverständnis der beteiligten Gruppen (Offizierskorps, Kosaken, Bauern, Intellektuelle, Revolutionäre) ableiten lässt.
Der Feldherr Aleksandr Vasil’evič Suvorov (1729–1800) war schon zu Lebzeiten ein Kriegsheld. Er ist bis heute einer der größten russischen Nationalhelden. Er eignete sich bisher für alle politischen Systeme in Russland als offiziell gefeierter Held: von der Zarenzeit über den Stalinismus bis ins heutige Russland. Emel’jan Pugačev (1742–1775), Anführer eines großen Volksaufstandes gegen Katharina II., verkörpert einen anderen Heldentyp: Er war ein Volksheld und gleichzeitig bis 1917 in der offiziell-staatlichen Perspektive eine Unperson, ein Antiheld, der eine Rebellion angezettelt hatte und dafür zum Tode verurteilt wurde. Die Konjunkturen seiner Heroisierung verlaufen daher anders. Trotz staatlicher Zensur erfuhr er eine Heroisierung durch Bauern, Kosaken, aber auch Teile der Intelligenz. Den Konstruktionskontext dafür bildeten idealisierte Traditionen kosakischen Lebens, die Vorstellung der Wiederkehr des gerechten Herrschers (Pugačev beanspruchte der 1761 ermordete Peter III. zu sein und hielt Hof) und die Verteidigung des wahren Glaubens (Pugačev war Altgläubiger). Pugačevs Verehrung ist eng verbunden mit der noch größeren des Stepan Razin, der hundert Jahre zuvor einen Aufstand angeführt hatte. Im offiziellen Geschichtsbild wurde Pugačev erst nach 1917 heroisiert, indem ihn die Kommunisten als Führerfigur des Proletariats vereinnahmten.
Die beiden Figuren Suvorov und Pugačev eignen sich aus mehreren Gründen für einen Vergleich: Sie lebten in derselben Epoche und ihre Lebensläufe kreuzten sich in dramatischer Weise: Beide kämpften im Siebenjährigen Krieg und in den Kriegen gegen die Polen und Türken, Suvorov als Offizier, Pugačev als Kosak. In den Jahren 1773 bis 1774 führte Pugačev einen Aufstand gegen Katharina II. an und wurde von General Suvorov nach seiner Niederlage als Gefangener in einem Käfig nach Simbirsk abtransportiert. Pugačev wurde zum Tode verurteilt, hingerichtet und jede Erinnerung an ihn wurde fortan unterdrückt; Suvorov erwarb sich hingegen im Türkenkrieg 1787–1792, im Kampf gegen die aufständischen Polen unter Tadeusz Kościuszko 1794 und in den Feldzügen gegen Napoleon großen Ruhm und wurde zum Feldmarschall und Generalissimus ernannt. Kurz vor seinem Tod fiel er allerdings in Ungnade, weil er offene Worte auch gegenüber dem Herrscher nicht scheute.
Das Teilprojekt kann zeigen, über welche unterschiedlichen Wege und mit welchen Formen im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion Helden in Abhängigkeit der sich wandelnden politischen Konstellation kanonisiert und als Modelle figuriert wurden und welche soziale und kulturelle Reichweite das Heroische entfaltete. Durch die Auswertung von zeitgenössischen und späteren historischen, literarischen und künstlerischen Darstellungen sowie Archivquellen sollen die Konjunkturen und Brüche der Heroisierungsprozesse in beiden Fällen zusammen mit den darauf aufbauenden Heroismen analysiert und in Beziehung zu den sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Russland gesetzt werden. Methodisch wird dabei auf lebensweltliche Bedingungen, Kommunikation, Medialisierung und Praktiken der Heroisierung und des Heroismus fokussiert.
Dr. Dmytro Myeshkov, Die Deutschen und ihre Nachbarn in der südlichen und südwestlichen Peripherie des Zarenreiches 1861–1914: Alltag und Normvorstellungen im Spiegel von Konflikten (gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, abgeschlossen 2015)
Die Beziehungen zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn in den ersten Jahrzehnten nach der Einwanderung ins Schwarzmeergebiet Anfang des 19. Jahrhunderts werden in der Forschungsliteratur zu Recht als friedlich charakterisiert. Bis in die späten 1830er Jahre (und in manchen entlegenen Gegenden auch deutlich länger) lebten ethnische und konfessionelle Gemeinschaften in dieser damals noch dünn besiedelten Region weitgehend voneinander isoliert und ihre Kontakte trugen eher zufälligen, sporadischen Charakter.
Zur Teilnahme an den Regierungsprojekten zu Modernisierung der Landwirtschaft und der Sesshaftmachung von Nomaden, die eine enge Kommunikation der Deutschen mit jüdischen Ansiedlern bzw. Nogaiern voraussetzten, ließen sich neben einigen Vertretern der kolonistischen Oberschicht vor allem Mennoniten und Deutsche ohne eigenes Land anwerben, die sich aber wenig um einen Austausch mit ihren neuen Nachbarn, sondern vielmehr um den Aufbau ihrer eigenen Existenz kümmerten. Den als „Musterwirte“ eingesetzten Deutschen standen geschlossene andersethnische Gemeinden gegenüber, die ihre traditionellen Normen und Vorstellungen über die vom Staat verfolgten Ziele stellten. Solche Experimente, deren wirtschaft-licher Nutzen seit den 1870er Jahren immer wieder in Frage gestellt wurde, waren im Alltag von zahlreichen Konflikten begleitet, die schwer zu überbrückende kulturelle, sprachliche und soziale Unterschiede deutlich machten. Die Forschung zu dieser Problematik blieb jedoch lange Zeit auf die Vorhaben der Regierung konzentriert und beschäftigte sich in erster Linie mit der Frage, ob die Deutschen der ihnen zugeschriebenen Vorbildrolle gerecht wurden.
Dass das Zusammenleben während der Frühphase der Kolonisierung des nördlichen Schwarzmeergebiets mehr ein Neben- als ein Miteinander war, wurde auch durch den privilegierten Status der deutschen und anderen ausländischen Kolonisten begünstigt, der im Rahmen der Sonderverwaltung für die Kolonisten auch eine eigene Gerichtsbarkeit vorsah. Während Dorf- und Bezirksämter für Streitfälle und Vergehen innerhalb der Kolonistengemeinden zuständig waren, hatte das Fürsorgekomitee in Odessa als obere Gerichtsinstanz die Aufgabe, die Kolonisten „nach außen“, d.h. bei den Konflikten mit den nicht-kolonistischen Nachbarn, zu vertreten. Aber nicht nur die Kolonistengemeinden, sondern auch die jüdischen Kehillas konnten in Russland anfangs einen großen Teil ihrer administrativen Funktionen beibehalten. Unter den Krimtataren übte die muslimische geistliche Verwaltung [magometanskoe duch-ovnoe pravlenie] auch nach dem Anschluss der Halbinsel 1783 weiterhin die Funktionen eines Gerichts niederer Instanz aus.
Der wirtschaftliche Aufschwung schuf seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine breitere Grundlage für systematische Kontakte zwischen den Deutschen und anderen ethnischen und konfessionellen Gruppen der Region. Auf der einen Seite übten viele deutsche Siedlungen, die sich zu bedeutenden Handels- bzw. Handwerkszentren entwickelten, auf die andersethnische Bevölkerung eine starke Anziehungskraft aus; ihre Abgeschlossenheit und die Homogenität ihrer Bevölkerung lösten sich dabei allmählich auf. Auf der anderen Seite verließen viele deutsche Kolonisten ihre Heimatorte und ließen sich in den wachsenden Städten sowie in ländlichen Siedlungen mit einer gemischten Nachbarschaft nieder. Der Anteil solcher „ausgetretener“ Kolonisten erreichte mancherorts schon vor dem Krimkrieg bis zu ein Viertel der gesamten Einwohnerschaft.
Die Involvierung einer immer größer werdenden Zahl von Deutschen in vielfältige Wechselbeziehungen mit der einheimischen Bevölkerung führte spätestens Ende der 1860er Jahre zu qualitativen Veränderungen: Die Anderen/Fremden wurden zum wichtigen Bestandteil der jeweiligen Weltvorstellungen und die Beziehungen zu ihnen gewannen für alle beteiligten Seiten stark an Bedeutung. Die Städte und manche ländliche Siedlungen mit ihrer zunehmend heterogenen Bevölkerung wurden zu Kontakträumen, in denen nicht nur persönliche Bezie-hungen und Netzwerke entstanden und sich gegenseitige Abhängigkeiten etablierten. Hier überschnitten sich verschiedene Lebenswelten, (Gruppen)Identitäten, Selbst- und Fremdbilder gewannen an Konturen, kulturell geprägte Normvorstellungen wurden gegenübergestellt und kommuniziert. Die Verflechtungen und Netzwerke über ethnische und konfessionelle Grenzen hinweg entfalteten sich ohne Einmischung des Staates zuerst im wirtschaftlichen, dann aber auch in anderen Lebensbereichen, und die Kontakte nahmen dabei unterschiedliche Formen an: vom Austausch von Produkten und Fertigkeiten über gegenseitige Einflüsse im religiösen Leben bis hin zum Erlernen der jeweils anderen Sprache. Man profitierte nicht nur von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, es gab auch die andere Seite der Medaille – Konkurrenz, die immer wieder Interessenkonflikte verursachte.
Zwar blieben die deutschen Gemeinden in Fragen wie Heirat, Unterstützung eigener Mitglie-der beim Landzukauf usw. auch nach der Aufhebung ihres privilegierten Kolonistenstatus 1871 ihrer Umwelt gegenüber verschlossen, doch förderte die rechtliche Gleichstellung der ausländischen Ansiedler und ihrer Nachbarn eine weitere Vertiefung und Intensivierung der gegenseitigen Beziehungen, vor allem bei denjenigen ehemaligen Kolonisten, die nun in eth-nisch gemischten Bezirken lebten und in ihrem Alltag mit andersethnischen Nachbarn ständig in Kontakt traten. Für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts soll davon ausgegangen werden, dass die Kontakte zwischen den Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen schon alle Lebensbereiche umfassten und durch ihren systematischen und dauerhaften Charakter den Alltag der breiten Mehrheit der Deutschen in der Region weitgehend mitbestimmten.
Die Großen Reformen Alexanders II. brachten tiefgreifende soziale Umwälzungen für das nicht-kolonistische Dorf mit sich und führten dort zur Verschärfung von sozialen Konflikten. Dass in vielen Landstrichen in den südlichen und südwestlichen Randgebieten des Zarenrei-ches die deutschen „Ansiedler-Eigentümer“ (ehem. Kolonisten) und die ukrainischen, russi-schen oder polnischen Bauern um immer knapper werdende Bodenressourcen konkurrierten, wurde zum Gegenstand heftiger öffentlicher Diskussionen. Soziale Auseinandersetzungen – wie z.B. zwischen den deutschen Landbesitzern und ihren ukrainischen und russischen Sai-sonarbeitern – bekamen oft auch eine ethnische Färbung. Damit bildete das Verhältnis zwi-schen den ethnischen Gruppen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Konkurrenz und entstehender Nationalismen Ende des 19. Jahrhunderts ein wachsendes Konfliktpotential.
Das Vorhaben zielt darauf ab, die Lebenswelten der Deutschen durch das Prisma ihrer gegen-seitigen und vielfältigen Beziehungen mit den Nachbarn zu rekonstruieren. Geografisch ist die geplante Untersuchung in den bunt besiedelten südlichen und südwestlichen Randgebieten des Zarenreichs verortet und umfasst damit zwei der bedeutendsten deutschen Siedlungsge-biete Russlands – das Schwarzmeergebiet und Wolhynien. Während das Schwarzmeergebiet in räumlicher Hinsicht den Hauptschwerpunkt bildet, wird Wolhynien nur dann zum Ver-gleich herangezogen, wenn die Quellen besonders interessante Erkenntnisse versprechen wer-den. Die geeigneten Quellen aus den wolhynischen Archiven werden stichprobeartig ermittelt und durch gute Kontakte des vorgesehenen Projektbearbeiters mit Archivaren beschafft. Als Gegenpart der Deutschen werden Ukrainer/Russen, Juden und Nogaier/Krimtataren (im Gou-vernement Taurien) bzw. Polen (in Wolhynien) betrachtet.
Der zeitliche Schwerpunkt der Arbeit liegt zwischen den Großen Reformen der 1860/70er Jahre und dem Ersten Weltkrieg. Dabei werden in erster Linie die 1870er Jahre und das letzte Vorkriegsjahrzehnt unter die Lupe genommen. Während die Beziehungen der Deutschen und ihrer Nachbarn in der ersten Periode durch die Aufhebung des Kolonistenstatus im Zuge der Großen Reformen geprägt wurden, sind sie während und nach der ersten Russischen Revolu-tion von 1905/06 im Kontext wachsender sozialer und interethnische Spannungen zu betrachten.
Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen, welche die russische Gesellschaft nach den Großen Reformen durchmachte, sollen zum einen der Alltag der Kolonisten in ihrer Verflechtung mit anderen ethnischen und konfessionellen Gruppen der Region, ihre Wertvor-stellungen und die darauf basierenden Selbst- sowie Fremdwahrnehmungen eingehend unter-sucht werden. Zum anderen stellt sich die Aufgabe, die kulturell geprägten Normvorstellungen als tragende Konstruktionen der deutschen Lebenswelten des späten Zarenreiches verglei-chend zu jenen anderer Bevölkerungsgruppen zu beschreiben. Dabei wird angestrebt, die bis-herige durch die Quellenlage bedingte Fokussierung auf Oberschichten zu überwinden, die Deutschen differenziert zu betrachten und dabei den „unmündigen“ ländlichen wie städti-schen Unterschichten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Vorhaben stellt beson-ders hohe Ansprüche an die wissenschaftliche Ansätze und die Quellenauswahl.
Dr. Eckhard John (Projektleitung) und Ingrid Bertleff, M.A., Russlanddeutsche Lieder – Popularlieder in transkultureller Lebenswelt (gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, abgeschlossen 2014)
Im Rahmen dieses interdisziplinär angelegten Forschungsvorhabens wurde die Verortung der traditionellen Popularlieder in der historischen Lebenswelt der Russlanddeutschen untersucht. Das Ziel war eine grundlegende Untersuchung des Korpus der sogenannten „kolonistischen Lieder“ der Russlanddeutschen im Hinblick auf ihre Verankerung in deren historischen Lebenswelten.
Innerhalb dieses Projektes stand die Frage nach den transkulturellen Prozessen, die sich in diesen Liedern ablesen lassen, im Zentrum der Forschungen. Es sollte gezeigt werden, wie sich Sprache und Musik, Inhalte und Verwendungsweisen unter dem Einfluss der Migration verändern. Die systematische Analyse und Darstellung der grundlegenden liedspezifischen Parameter, die das – wechselweise von Austausch und Abgrenzung geprägte – Verhältnis zur russischen (bzw. ukrainischen) Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck bringen, schafft den kulturgeschichtlichen Bezugsrahmen, in dem sich individuelle Liedgeschichten erst sinnvoll verorten lassen.
„Kolonistische Lieder“ sind spezifische Repräsentanten russlanddeutscher Popular¬lieder, die Alltag, Kultur und Geschichte in den traditionellen Siedlungen der Russlanddeutschen in besonderer Weise mit geprägt haben. Ihr Profil als Liedgruppe konstituiert sich dadurch, dass diese Lieder erst in der neuen, russischen Heimat der ausgewanderten Deutschen entstanden sind und dort gepflegt wurden. Zugleich werden sie bis in die Gegenwart tradiert (und verändert). Eine weitere Besonderheit dieses Liedkorpus ist darin zu sehen, dass solche Tradierung noch im Medienzeitalter des 20. Jahrhunderts weitgehend mündlich erfolgte.
Am Beispiel der „kolonistischen Lieder“ wird in diesem Forschungsprojekt gezeigt, welche besondere Rolle traditionelle Lieder als identitätsstiftende Faktoren und als Erinnerungsträger der Russlanddeutschen eingenommen haben (und einnehmen).
Projektpartnerin (Staatl. Univ. St. Petersburg): Prof. Dr. Natalia D. Swetosarowa.
Die Forschungsergebnisse sind im Februar 2018 unter dem Titel "Russlanddeutsche Lieder: Geschichte - Sammlung - Lebenswelten" im Klartextverlag erschienen. Die Buchpräsentation findet am 8. Mai 2018 im Forschungskolloquium zur Osteuropäischen Geschichte (18 Uhr c.t., im KG IV, Raum 4429) statt.
Dr. Dmytro Myeshkov, Dr. habil. Pavel Polian: Migration im Land-Stadt-Kontinuum Russlands im 20. Jahrhundert. Steuerbarkeit, Adaptivität und Bewältigungsstrategien (DFG-Projekt, abgeschlossen 2013)
Fragestellung und Zeile
Migration spielt in der Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Sie bildete einerseits die Voraussetzung für Urbanisierung und Industrialisierung, nahm aber andererseits immer wieder für die aufnehmenden Städte wie für die abgebenden ländlichen Regionen problematische Formen an, sodass die Behörden vor die Notwendigkeit gestellt waren, regelnd einzugreifen.
Aus dieser Problematik ergibt sich die Ausrichtung des Projekts. Es untersucht Migrationen und Verstädterungsprozesse im Hinblick auf die Steuerbarkeit der Migrationen und die Bewältigung soziokultureller Migrationsfolgen. Den räumlichen Bezugsrahmen bilden dabei der Gesamtstaat sowie zwei unterschiedlich strukturierte Beispielregionen (Ural und Nordkaukasien). Der zeitliche Rahmen ist das gesamte 20. Jahrhundert, von der ersten (1897) bis zur jüngsten (2002) Volkszählung. Der Fokus liegt auf der poststalinistischen Sowjetunion.
Hinsichtlich der Steuerbarkeit von Migration wird unterschieden zwischen politisch-administrativen Steuerungsversuchen (Gesetze, Zuzugsbestimmungen, Passsystem, Sperrzonen, Zwangsmigrationen) sowie nichtbehördlichen Steuerungsmechanismen (Sozialkontrolle bzw. Solidarität in der Dorfgemeinde und Familie, Pull- und Push-Faktoren sozioökonomischer, naturräumlicher oder demographischer Art, individuelle Migrationsentscheidung). Durch den Abgleich struktureller Merkmale mit subjektiven Wahrnehmungen und soziokulturellen Faktoren soll untersucht werden, wie die Land-Stadt-Wanderungen mit den Rahmenbedingungen in Bezug gesetzt werden können und inwieweit sie sich als steuerbar erwiesen bzw. von den verschiedenen Faktoren beeinflusst und gesteuert wurden.
Neben der – nur begrenzt wirksamen – Steuerung des Migrationsverhaltens werden auf regionaler und lokaler Ebene auch die Strategien zur Bewältigung der Folgen von Ab- und Zuwanderung untersucht. Bei der Analyse dieser Versuche der kontrollierten Abmilderung struktureller und kultureller Veränderungen des bestehenden Systems wird den kulturellen Wechselwirkungen zwischen ländlichem und städtischem Raum besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Forschungs- und erkenntnisleitend ist eine adaptierte Theorie von Migrationssystemen, die die verschiedenen Faktoren, die Migration am Herkunftsort, am Zielort und in übergeordneten Raumeinheiten bedingen und beeinflussen, miteinander vernetzt. Das bisher vor allem auf länderübergreifende Migrationen angewandte, auf kultureller Differenz beruhende Modell des Migrationssystems soll auf Binnenmigrationen übertragen werden, wobei demographisch-statistische, soziologische und kulturgeschichtliche Herangehensweisen kombiniert werden.
Konzeption: Prof. Dr. Dietmar Neutatz, Prof. Dr. Jörg Stadelbauer, Dr. habil. Pavel Polian, Dr. Dmytro Myeshkov, Angela Haas, M.A.
Verantwortlicher Projektleiter: Prof. Dr. Dietmar Neutatz
Teilprojekt 1
Politisch-administrative Steuerungsversuche und Selbstregelungsmechanismen der Migration im Land-Stadt-Kontinuum Russlands im 20. Jahrhundert.
Bearbeiter: Dr. habil. Pavel Polian
Das Teilprojekt analysiert Migrationen und Verstädterung in Russland während des 20. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Steuerbarkeit durch politische und administrative Maßnahmen (Gesetze, Zuzugsbestimmungen, Passsystem, Ansiedlungsrayon, geschlossene Städte und andere Arten von Sperrzonen, Zwangsmigrationen), wobei zur Beurteilung der Effektivität dieser Steuerungsversuche auch die Wirkungen von governance (Zusammenwirken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure) und nichtformalen Regelungsmechanismen in Land-Stadt-Migrationssystemen mitberücksichtigt werden müssen.
Die Untersuchung erfolgt auf der Ebene des Gesamtstaates sowie am Beispiel ausgewählter Regionen (Nordkaukasien und Ural). Zeitlicher Bezugsrahmen ist das gesamte 20. Jahrhundert. Hinsichtlich der Migrationen steht die Bewegung vom Land in die Stadt im Vordergrund.
Eingebettet in den dem Gesamtprojekt zugrunde liegenden Analyserahmen von Migrationssystemen untersucht das Teilprojekt zum einen den Wandel in den Intentionen und Maßnahmen des Staates sowie die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf der makro-statistischen Ebene, zum anderen strukturelle Bedingungen, die Migrationsentscheidungen beeinflussen (Pull- und Push-Faktoren), soziale Netzwerke, Familienstrukturen und Formen von Sozialkontrolle innerhalb der ländlichen und städtischen Gesellschaft, die eine regulierende Wirkung auf die Migration anstreben oder tatsächlich entfalten.
In der Sowjetunion waren die Lebensbedingungen und Berufschancen zwischen Stadt und Land sehr ungleich verteilt. Das Leben im Kolchos erschien wenig erstrebenswert, während in der Stadt Verdienstmöglichkeiten und Aufstiegschancen lockten. Es ist davon auszugehen, dass die Abwanderung in die Städte von den örtlichen Autoritäten und möglicherweise auch innerhalb von Familienverbünden und sozialen Netzwerke auf dem Land als etwas betrachtet wurde, das der Lenkung und ggf. Eindämmung bedürfe.
Teilprojekt 2
Kulturelle Wechselwirkungen und Bewältigung soziokultureller Migrationsfolgen am Beispiel von Sverdlovsk und Stavropol’ 1950-1991.
Bearbeiter: Dr. Dmytro Myeshkov
Verschiedene Arten von Migration entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss objektiver und subjektiver wie auch attraktiver und unattraktiver Faktoren, die von Umweltbedingungen abhingen. Einige dieser Bedingungen waren konstant, wie geographische Lage und Klima, andere veränderten sich, z. B. Bevölkerungszahl, Landschaft und Bodenbeschaffenheit. Ein weiterer Teil war abhängig von der jeweiligen politischen Situation, auch der Migrationspolitik. Diese sich gegenseitig beeinflussenden, z. T. widersprüchlichen objektiven und subjektiven Faktoren begründeten den Entschluss zur Migration und dessen Verwirklichung. Die Gründe, aus denen sich die jeweilige Persönlichkeit mit ihren psychologischen Eigenheiten zur Migration entschloss, entschieden mit über den Prozess ihrer sozialen und kulturellen Anpassung an die übernehmende Gesellschaft und an die kulturelle und soziale Lage im Migrationsziel.
Dieses Teilprojekt untersucht einerseits kulturelle Wechselwirkungen zwischen Land und Stadt innerhalb der Land-Stadt-Migrationssysteme sowie andererseits politisch-administrative Reaktionen auf die Migrationsprozesse in Form staatlicher oder nichtstaatlicher Steuerungseingriffe.
Die Stadt als Einheit formte eine eigene Art von Kultur, die die lokale Gesellschaft prägte und der Identifikation ihrer Bewohner diente. Diese städtische Kultur war eine besondere Gesellschaftsform, die sich u. a. auf historische Wurzeln, ihre spezielle Lebensweise, Symbole, soziale Beziehungen stützte. Die Stadt entwickelte ein Wertesystem und den ihr eigenen Persönlichkeitstyp des „Städters“. Bei der Migration vom Land in die Stadt wurde aus der „ländlichen“ eine „städtische“ Bevölkerung: ihr Gesichtskreis, ihre Fertigkeiten in der Arbeitswelt, ihre Bedürfnisse, ihr Wertesystem, ihre Lebensweise änderten sich. Ein Ergebnis von Land-Stadt-Migration war die Aufteilung der Bevölkerung in „unmodern“ und „fortschrittlich“, auch wenn bei weitem nicht alles Ländliche als „veraltet“ angesehen werden musste. Von der Umverteilung der Bevölkerung – eine weitere Folge der Migration – profitierte bemerkenswerterweise nicht nur die Stadt (sie erhielt zwar ungenügend ausgebildete, dafür sehr billige und leistungsstarke und im Alltagsleben anspruchslose Arbeitskräfte), sondern nach Art „kommunizierender Röhren“ ebenfalls das Land.
Die Migration vom Dorf in die Stadt schuf Übergangszonen, sowohl in geographischer und struktureller als auch in soziokultureller Hinsicht. Augenfälligstes Beispiel waren Peripherien der städtischen Siedlungen, in denen sich bäuerliche und städtische Kulturen und Lebensweisen vermischten. Es kam aber auch zu kulturellen Rückwirkungen der Migration auf den ländlichen Raum, etwa in Form von Konsumgütern, veränderten Lebensweisen und Werthaltungen.
Bäuerliche Zuwanderer verbanden also in kreativer Weise Lebenswelten des Dorfes als auch der Stadt. Ihre soziale Identität war von beidem geprägt und dadurch komplex, individualisiert und nicht eindeutig kategorisierbar. Zuwanderer eigneten sich von beiden Kulturkontexten das an, was ihren sozialen und kulturellen Bedürfnissen entsprach.
Dabei stellen sich im Hinblick auf die Frage nach der Steuerbarkeit von Migrationsprozessen wichtige Fragen: Wie nahmen Dritte bzw. potentielle Migranten kulturelle Veränderungen bei Migranten in Stadt und Land wahr? Wie wirkte sich das auf die Attraktivität der Migration und auf bestimmte Migrationsziele aus? Inwieweit spielte Kultur, verstanden als Gesamtheit der Lebensweisen und ihrer Deutung durch die Umwelt, eine Rolle im Prozess der Land-Stadt-Migration? Welche Folgen hatte das für die Steuerungs- und Bewältigungsinteressen, -ziele und -strategien des Staates und lokaler Behörden in Bezug auf Migrationsvorgänge und deren soziokulturelle Auswirkungen. Mit welchen Mitteln und in welchem Maße gelang es den Behörden, die Strukturen und das Leben in der Peripherie der rasch wachsenden Städte zu ordnen, um das Entstehen von unkontrollierbaren Slums zu verhindern?
Assoziiertes Promotionsprojekt
Individuelle Migrationsentscheidungen und ihre Determinanten in Migrationssystemen am Beispiel von Sverdlovsk und Stavropol’ 1950-1991
Bearbeiterin: Angela Haas, M.A.
Das vorliegende Promotionsvorhaben führt eine empirische Untersuchung und Modellbildung zur Land-Stadt-Migration in Russland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch. Den analytischen Rahmen des Gesamtprojekts bietet das Konzept der Migrationssysteme, das von der internationalen Migration, auf die es sich bisher bezieht, auf Binnenmigration übertragen werden soll. Beim Migrationssystem-Ansatz werden Migrationsprozesse im Rahmen einer systemtheoretischen Analyse betrachtet. Dabei sollen neben der ökonomischen Seite, wie in den meisten anderen Migrationstheorien, auch politische, soziale und demographische Faktoren berücksichtigt werden. Die Verbindung zwischen strukturellen Bedingungen und sozialen Akteuren, zwischen Makro- und Mikroebene, bilden dabei soziale Netzwerke und stellen damit eine zentrale Komponente der Migrationssystemanalyse dar.
Das Ziel des Promotionsprojekts ist die Erarbeitung eines theoretischen Fundaments, das Kausalhypothesen über den Zusammenhang von Struktur- und Individualmerkmalen auf der einen und individuellen Migrationsentscheidungen auf der anderen Seite generieren soll.
Zunächst ist eine eine Synthese aus system- und entscheidungstheoretischen Ansätzen vorgesehen. Anschließend soll ein präziser Entscheidungsmechanismus herausgearbeitet werden, in dem das Modell der sozialen Netzwerke um verhaltenstheoretische Komponenten wie Perzeption und Information sowie um den Begriff „soziales Kapital“ ergänzt wird. Hierfür liefern die klassischen und neueren entscheidungstheoretischen Modelle genügend Anknüpfungspunkte und können bei der Bildung von Hypothesen hilfreich sein.
Die zentrale Frage lautet: Unter welchen Bedingungen wird Migration als Problemlösungsstrategie wahrgenommen (a) und welche Faktoren beeinflussen die Wanderungsentscheidung und auf welche Weise (b)? Die Hypothesengenerierung für den ersten Teil (a) der Frage lehnt sich an das psychologische Modell der Wanderungsentscheidung von Monika Vanberg (1972) an. Die Faktoren, welche die Mobilitätsbereitschaft beeinflussen (Teilfrage b), können mit Hilfe der Netzwerkanalyse herauskristallisiert werden. Die daran anschließende Frage (im Rahmen des Gesamtprojekts) muss sein, wie sich die individuellen Motive für die Wanderung zu den staatlichen Steuerungsmechanismen verhalten.
Auf die Hypothesengenerierung folgt anhand der Projektdaten eine empirische Überprüfung der aufgestellten Hypothesen. Als Datengrundlage dienen das im Rahmen der Archivarbeiten gesammelte und von Bearbeitern der anderen Teilprojekte zur Verfügung gestellte Datenmaterial sowie die Ergebnisse einer eigenen quantitativ-qualitativen Befragung. Dazu sollen teilstandardisierte Interviews mit Migrant/inn/en, aber auch mit Personen, die bewusst auf Migration verzichteten, geführt werden.
Die Besonderheit dieses Vorhabens liegt darin, dass sein Ansatz interdisziplinär ist. Das ergibt sich vor allem aus der Zusammenarbeit mit den anderen Teilprojekten in den Fachbereichen Geschichtswissenschaft und Sozialgeographie und der Kombination verschiedener methodischer Herangehensweisen. Außerdem bietet sich eine einzigartige Möglichkeit an, zwei Migrationssysteme zu vergleichen, die sich strukturell, geopolitisch und ethnisch fundamental von einander unterscheiden, wobei wichtige Faktoren wie das politische System, Zeitrahmen, etc. konstant gehalten werden können.
Verkehrswege in Kaukasien. Ein Integrationsproblem des Zarenreiches 1780-1860 (DFG-Forschungsprojekt, abgeschlossen 2012)
Das größte Land der Welt benötigte rund 90 Jahre, um sich den gebirgigen Grenzsaum in seinem Süden einzuverleiben. Seine Mittel dazu waren über die meiste Zeit beschränkt, daher entwickelte die Führung eine Stützpunktstrategie, die auf ausgedehnten Verkehrsverbindungen beruhte, die ständig bedroht waren, und die indigenen Bevölkerungen auf die eine oder andere Weise einbezog. Für Jahrzehnte bewährte sich diese Lösung in einem naturräumlich schwierigen Gebiet, das bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das begehrte Objekt dreier Mächte, Persien, Russland und dem Osmanischen Reich bildete, von denen Russland der modernste Staat war. Das Projekt verortet sich im Kontext der Forschung zu Kolonisierungsprozessen und Integrationsstrategien multiethnischer Großreiche. Es untersucht die militärisch-verkehrstechnische Seite von Einverleibung und Herrschaft, die Politik zur Raumsicherung und zum Unterhalt der Kommunikationen. Es soll gezeigt werden, wie in der Zeit vor dem Eisenbahnbau die Verkehrsanbindung kaukasischer Territorien an das Russische Reich funktionierte und wie sie sich auf die Integration der verschiedenen kaukasischen Gebiete auswirkte.
Durch einen Schutzvertrag mit dem christlichen Ostgeorgien 1783 erlangten die Territorien jenseits des Kaukasus-Hauptkamms Bedeutung in der russischen Expansion. Dort wurden seit 1801 immer mehr Teilterritorien an das Zarenreich angeschlossen, die nur über einen Verkehrsweg zugänglich waren, die Georgische Heerstraße (russ. Gruzinskaja voennaja doroga) von Wladikawkas nach Tiflis. Russische Truppen und Ingenieure bauten sie über Jahrzehnte aus, so dass sie als dauerhafte Militärverbindung genutzt werden konnte. Durch die Fragmentierung Kaukasiens, durch „wilde“ Bergvölker und natürliche Einflüsse war diese wichtige Lebensader bis in die Zeit des Krimkriegs ständig bedroht. Die russische Führung bediente sich verschiedener Mittel zur Herrschaftssicherung, als wichtigstes dabei der militärischen Option. Seit 1777 wurde im gesamten Nordkaukasus die kaukasische Linie eingerichtet, eine dünne Grenzverteidigung und Verkehrsverbindung, die von Kosaken entlang der Flüsse Kuban und Terek besetzt wurde. Die Integration der transkaukasischen Gebiete begann im heutigen Georgien und erfasste erst zuletzt die Gebiete am westlichen und östlichen Hauptkamm. Dieser Prozess überschneidet sich mit militärischen Auseinandersetzungen sowohl mit den südlichen Nachbarn Russlands, den Osmanen und Persern, als auch mit kaukasischen Völkern. Dabei handelt es sich um den bis 1864 dauernden, so bezeichneten Kaukasischen Krieg, den man sich als langfristigen low-intense conflict vorzustellen hat.
In den traditionalistischen Gesellschaften erwartete Russland eine schwierige Aufgabe: die Regelung der vormodernen Wirtschafts- und Lebensweisen (gegenseitige [Vieh-]Diebstähle, Menschenverschleppung zum Zwecke von Lösegeldforderungen, Schmuggel, Sklaverei, Polygamie, Nischen für Sektierer usw.). Loyalitäten und Identitäten wechselten auf beiden Seiten, örtliche Gegebenheiten und die Verständigung mit dem potenziellen, aber nicht immer erkennbaren Feind – etwa beim Handel – rangierten auf der unteren Ebene vor staatlichen Interessen. Erst nach dem Krimkrieg veränderten sich die Verhältnisse im kaukasischen Süden Russlands. Die Reformen Alexanders II. strebten Modernisierung und Zentralisierung an, die durchgängig waren und mit alten Strukturen aufräumten. Das Wirtschaftsgefüge im Kaukasus änderte sich, das übernationale Reich legte sich mit seiner modernen Staatlichkeit über die überkommenen Strukturen der Teilterritorien, ohne aber die ethnischen, sprachlichen und kulturellen Unterschiede zu nivellieren. Im Jahrzehnte währenden innerrussischen Widerstreit, ob die eroberten Gebiete als Kolonie oder als integrale Provinzen des russischen Staats anzusehen seien, obsiegte in der Herrschaftspraxis die kolonialistische Variante in einer Zeit, als Russland sich zur Expansion in Zentralasien anschickte und dabei eine moderne Ideologie der Reichsformierung und -erschließung entwickelte. Nur selten wird dabei deutlich, dass es mit der Eroberung in die vor allem islamischen Bergvölker hineingetragene Konfliktpotenziale waren, die den antirussischen Widerstand jenseits religiöser Momente anfachten: das russische Unverständnis für die islamischen Bergvölker, die meist egalitär-vormodern geprägt waren und durch russische Einbindungsversuche der „indirekten Herrschaft“ von außen hierarchisch strukturiert und feudalisiert wurden.
Das Projekt untersucht die staatlich-militärische Sicht, die sich auf die Sicherung von Grenzen und Verkehrswegen konzentrierte, außerdem auf militärische Maßnahmen zur Pazifizierung oder Eroberung. Neben kleineren Feldzügen, die gelegentlich „verbrannte-Erde-Kampagnen“ waren, mit brutaler Härte geführt wurden und ethnische Säuberungen einschlossen, interessiert hier die Politik zur Raumsicherung und Unterhalt der Kommunikationen. Mit ihnen ging die politische Einverleibung und soziale Integration einher. Diese enthielten auch ein beträchtliches Maß an Modernisierung und Europäisierung, das für alle Seiten große Vorteile barg, ohne dass die nichtslawischen und nichtchristlichen Völker deswegen ihre Identität hätten aufgeben oder einschränken müssen. Dieses Modernisierungspotenzial setzt zeitgleich mit dem Ausbau und der Sicherung der Verkehrswege ein; die Kommunikationsmittel sind ein Element der Modernisierung, das vom rein Militärischen in die fremden Gesellschaften hinüberreicht. Die christlichen Völker der Georgier und Armenier, die sich schon früh und freiwillig Russland anschlossen, belegen dies durch ihren Anteil an den Kommunikationen.
Das Projekt beleuchtet die militärisch-verkehrstechnische Seite von Einverleibung und Herrschaft. Russland betrieb in seinen Randgebieten einen contiguous colonialism, in der Herrschaftspraxis beruhte es besonders auf seinen Verkehrsverbindungen (Sibirien, Zentralasien). In Hinsicht auf die im Kaukasus durch ethnisch-konfessionelle, damit politische und auch naturräumliche Gegebenheiten besonders komplexen Verhältnisse ist eine spezielle Studie gerade in der Zeit vor dem Eisenbahnbau ein Desiderat. Sie soll aufzeigen, wie sich die Verbindung kaukasischer Territorien mit Russland auf die Integration der Einzelterritorien untereinander als auch im Verband mit dem eurasischen Großreich auswirkte.
"Wissenschaftliche Edition der autobiographischen Aufzeichnungen des Russlanddeutschen Jakob Wall über die Zeit der Deportation und des Lebens in der Sondersiedlung" (Gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, abgeschlossen 2012)
Die Erinnerung eines Kindes ist sehr selektiv und so kommt es, dass es nur die emotionalsten Momente im Gedächtnis abspeichert. Der Gegenstand dieses Projektes ist eine solche Erinnerung bzw. das Selbstzeugnis eines Russlanddeutschen. Es handelt sich um Jakob Wall, der am 14.6.1928 im Dorf Medemtal an der Wolga geboren wurde. Sein Vater wurde kurz nach der Deportation nach Sibirien (1941) in die Arbeitsarmee eingezogen. Er kam in eine Panzerfabrik nach Čeljabinsk (Ural) und starb dort an Hunger.
Die übrige Familie verblieb in Sibirien. Der Verlust des Familienoberhaupts und der damit schlimmer werdende Hunger trieb sie dazu sich unerlaubt von der Sondersiedlung zu entfernen. Sie zogen mehrmals (illegal) von Ort zu Ort. Die Mutter stirbt bald darauf und die Kinder müssen sich alleine zurechtfinden. Die älteren arbeiten in der Glasfabrik der Siedlung. Jakob Wall bettelt in den umliegenden Dörfern, damit sie den sibirischen Winter überleben. Zwei der drei Schwestern konnten eine Schule besuchen. Die mittlere Schwester starb kurz nach dem Krieg an den Folgewirkungen des Hungers. 1947 wurden im Ort weitere deportierte Deutsche einquartiert, und mit ihnen wurde die Kommandantur (das Regime der Sondersiedlungen) eingeführt. Jakob Wall lernte unter den deportierten Deutschen ein Mädchen kennen. Über seinen in Sibirien verbrachten Lebensabschnitt fertigte Jakob Wall in den
1960er Jahren in Kasachstan Aufzeichnungen an. Er nannte sie "Ein Weg durch Russland. Diese Spuren machten die Deutschen durch Sibirien. Das ist mein Tagebuch von 1942 bis 1960". Es handelt sich aber nicht wirklich um ein Tagebuch, sondern um einen zusammenhängenden, im Nachhinein verfassten, autobiographischen Text. In den achtziger Jahren kam Jakob Wall und seine Frau nach Deutschland. Durch die neuen Umstände, war Jakob Wall davon überzeugt, dass die Enkelkinder die russische Sprache vergessen und verlernen würden. Er beschloss seine Erinnerungen noch einmal zu Papier zu bringen. Er übersetzt nicht die vorherige Fassung, sondern schrieb alles noch einmal von Neuem auf. Die deutschen Buchstaben beherrschte Jakob Wall, jedoch schrieb er wie er sprach.
Die Edition ist interessant, da zwei Fassungen vorliegen. In den beiden kann man nachvollziehen, wie sich jemand eine Sprache aneignet. Die Unterschiede, die in den Erzählungen auftauchen, spiegeln zwei Ebenen der Erinnerung und der Auseinandersetzung des Lebensweges wieder. Und die beiden Fassungen besser vergleichen zu können, wurde folgende Darstellung gewählt: Drei Spalten sind einander gegenüber gestellt. Die erste ist die original russische Fassung, sie ist unverändert. Die Zeichensetzung und jegliche Rechtschreib- und Grammatikfehler sind wie beim Autor. Wenn die Rechtschreibung so gravierend falsch ist, dass man das Wort kaum erkennen kann, ist eine Fußnote vorhanden.